Residenzjahr 2022/23:
Künstlerinnenduo FORT

Die Künstlerinnen

FORT ist ein 2008 gegründetes Künstlerinnenkollektiv, bestehend aus Alberta Niemann (*1982 in Bremen) und Jenny Kropp (*1978 in Frankfurt/Main). Zentraler Gegenstand ihres Werks sind alltägliche Objekte des privaten und öffentlichen Raums, die nachgebaut oder subtil verfremdet werden. Die Arbeiten bewegen sich dabei stets auf dem schmalen Grat zwischen dem Vertrauten und Unheimlichen, dem Ernsthaften und Humorvollen. Ganz bewusst spielt FORT mit Erinnerungs und Sehnsuchtsbildern, in denen die Intimität des Bekannten ins Beklemmende oder Absurde transformiert wird. Ihre Arbeiten wurden u.a. in den Kunstwerken Berlin, dem Museum of Modern Art Warschau und der Kestner Gesellschaft Hannover gezeigt und mit renommierten Stipendien und Preisen, wie dem Karl Schmidt-Rottluff Stipendium und dem Cremer-Preis ausgezeichnet. Seit 2023 sind sie Professorinnen für Bildhauerei an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Die Künstlerinnen leben und arbeiten in Berlin.

Neuproduktion für den öffentlichen Stadtraum
„Archiv der Sorgen“ (2023)

Das Residenzjahr 2022/23 haben die Stipendiatinnen Jenny Kropp und Alberta Niemann des Künstlerinnenduos FORT gestaltet. Entstanden ist die Neuproduktion „Archiv der Sorgen“, eine Mehrkanal-Soundinstallation mit sprechenden Raben-Animatronics. Die als Gruppe zusammenstehenden Raben teilen einzeln als auch chorisch miteinander Sorgen und Befürchtungen, Bedenken und Ängste der in Siegen lebenden Menschen über alle Altersstufen und Lebensbiografien hinweg. Eingesprochen wurden die Stimmen von den Schauspieler:innen Hassan Akkouch, Sophie Rois, Lars Rudolph, Lilith Stangenberg und Oskar Luzoro Tonke.

Die gleichnamige Ausstellung „Archiv der Sorgen“ wurde am 25.10.2023 im Foyer des Rathauses der Universitätsstadt Siegen eröffnet. Die Ausstellung war anschließend bis zum 08.12.2023 geöffnet.

Fotos: Philipp Ottendörfer

Auszug der Tonspur

Transkript

Einführungstext zur Ausstellung von Thomas Thiel

Siegen im Dezember 2022. Ein weißer Kiosk steht an der Oberstadtbrücke in einer Einkaufsstraße mitten im Zentrum zwischen Café Extrablatt und C&A, unweit der Siegerländer Symbolfiguren und Arbeiterstandbilder Henner (Bergmann) und Frieder (Hüttenmann). „Archiv der Sorgen“ ist die funktionale Holzarchitektur in geschwungener, leuchtender Neonschrift im Stil der 1950er Jahre überschrieben. Für ihre Aufgabe ist das Büdchen eigentlich viel zu klein, aber immerhin groß genug, um als Anlaufstelle zu dienen und sich gestalterisch von den umliegenden Weihnachtsmarktständen abzuheben.

Bereits einige Wochen zuvor war eine kleine Gruppe schwarz gekleideter Menschen mit schwarz-weiß beschrifteten Archivkoffern durch die Siegener Innenstadt gezogen – eine seltsam anmutende und unangekündigte Performance, die ein besonderes Archiv in der City Galerie, im Sieg Carré, in der Fußgängerzone und an öffentlich zugänglichen Orten wie Bibliotheken und Museen ankündigen sollte. Liedzitate wie „Ich zähle täglich meine Sorgen“ (Peter Alexander), „Guten Morgen liebe Sorgen“ (Jürgen von der Lippe) oder „Mein Name ist Sorge“ (Samy Deluxe) auf verschiedenen Großplakaten wiesen zusätzlich an den Einfallstraßen der Stadt auf das neue Angebot und die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme hin. Mit diesen Hinweisen im öffentlichen Raum, den sozialen Medien und einem eigens für das Projekt geschaffenen Ort trat das Archiv erstmals mit der lokalen Öffentlichkeit in Kontakt.

Was in diesem Moment vielleicht nicht jedem klar und sicher auch zweitrangig ist: Das Archiv der Sorgen will kein Archiv im klassischen Sinne sein, will keine Umfragen für eine wissenschaftliche Studie erheben, wie es sonst in Fußgängerzonen üblich ist, oder gar Unterschriften für einen guten Zweck sammeln. Das Künstlerinnenduo FORT (Alberta Niemann & Jenny Kropp) ist im Rahmen des Programms „Artist in Residence Siegen“ angetreten, um im direkten Austausch mit der Stadtgesellschaft, mit Wissenschaftler:innen und Studierenden der Universität Siegen ein künstlerisches Sorgenarchiv für Siegen zu entwickeln. Über den Zeitraum eines akademischen Jahres hat sich FORT in Seminaren mit den Sorgen der Siegener:innen auseinandergesetzt, wollte den persönlichen Ängsten und Sorgen vor lokalen Veränderungen ebenso nachspüren wie den globalen Krisen unserer Zeit. Das Sammeln, Archivieren und Auswerten wurde dabei zum integralen Bestandteil ihrer künstlerischen Strategie. Drei Wochen lang konnten die Bürger:innen ihre Ängste und Sorgen auf ganz unterschiedliche Weise loswerden: mündlich im persönlichen Gespräch oder per Anrufbeantworter, schriftlich per Formular oder per E-Mail (meinesorge@archivdersorgen.de). Fast jeden Nachmittag (15-20 Uhr) waren die Künstler:innen mit Unterstützung von Student:innen an ihrem selbst gestalteten Sorgenstand präsent. Insgesamt kamen in kurzer Zeit fast 400 Sorgen zusammen, die unterschiedlicher nicht sein konnten und die Grundlage für ein Skript bildeten, das die Künstlerinnen gemeinsam mit den Studierenden arrangierten. Die Bandbreite reichte von ganz persönlichen Sorgen, ortsbezogenen Anliegen bis hin zu gesamtgesellschaftlichen Ängsten. Jede Sorge wurde gleichwertig erfasst und dokumentiert, darunter z.B. die Sorge, „nicht alles im Leben geschafft zu haben, was man sich vorgenommen hat“ oder die Sorge, „…das Haus und die Hochzeitspläne (nicht) fertig zu bekommen“ bis hin zu nicht erwiderter Liebe, Angst vor Missbrauch, vor Ausgrenzung, vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Krieg und Tod.

Diese gesammelten Sorgen bilden nun die Grundlage für die multimediale Installation „Archiv der Sorgen“, die zum Abschluss des Residenzjahres und über den Sommer 2023 im Siegener Rathaus zu sehen sein wird. Im politischen Zentrum der Stadt, zwischen Trauzimmer und Bürgerbüro, werden sie erstmals präsentiert. Fünf lebensgroße Raben sitzen hier auf einer Vielzahl scheinbar nicht abgeholter, schwarzer Müllsäcke und tragen abwechselnd ihre Sorgen vor. Bei den klischeehaften Figuren handelt es sich um so genannte Animatronics, von Jahrmärkten oder Vergnügungsparks bekannte, hochtechnisierte und zum Teil im 3D-Druckverfahren hergestellte Puppen, die durch elektronische und mechanische Antriebe, Programmierung, Sound und Synchronisation eine jeweils einzigartige Persönlichkeit entwickeln. Eine Stunde lang sprechen sie miteinander, mal monologisch, mal synchron im Chor. Jeder Rabe hat seine eigene Stimme, gesprochen von den bekannten Schauspieler:innen und Sprecher:innen Hassan Akkouch, Sophie Rois, Lars Rudolph, Lilith Stangenberg und Oskar Tonke-Luzoro. Tatsächlich werden die niedergeschriebenen Sorgen durch die Stimme zum Leben erweckt. Raben gelten gemeinhin als intelligente, soziale Wesen, die schon in der Mythologie den Göttern in die Ohren krächzten, was sie sahen und hörten. So entpuppen sich die Figuren auch hier als orakelnde Zeitgenossen mit teils düsteren Themen und hoffnungsvollen Zukunftswünschen. Wie Fabelwesen führen uns die Raben in ihren Erzählungen das ganze Spektrum menschlicher Ängste vor Augen und ermöglichen einen ungefilterten Zugang zu sorgenvollen Gedanken.

So zeichnet FORT mit der erstmaligen Präsentation des prozess- und zeitgebundenen „Archivs der Sorgen“ ein ebenso individuelles wie aussagekräftiges
Porträt Siegens und zugleich ein gesellschaftliches Gesamtbild einer mittelgroßen Stadt in Deutschland. Ganz beiläufig wie an der Oberstadtbrücke wird man der künstlerischen Intervention schließlich auch im Rathaus begegnen auf dem Weg zum Bürgerbüro oder zum Standesamt. Die Neuproduktion des Künstlerinnenduos markiert nicht nur den Abschluss des ersten Residenzjahres, sondern bildet an der Schnittstelle von Stadt, Universität und Kunst einen weiteren öffentlich erlebbaren Höhepunkt des Künstler:innenprogramms „Artist in Residence Siegen“, das im Herbst 2023 fortgesetzt wird.

Thomas Thiel (Direktor des Museums für Gegenwartskunst Siegen)

Medienstimmen zur Ausstellung

Rückblick auf das Residenzjahr 2022/23

Mit freundlicher Unterstützung der Christa-und-Dieter-Lange Stiftung & des Studios für Elektroakustische Musik der Akademie der Künste, Berlin.
Vielen Dank an alle Menschen in Siegen, die von ihren Sorgen erzählt haben, den Studierenden, die an der Umsetzung des Projekts beteiligt waren, sowie Calren Media, die die Animatronics umgesetzt haben.